Glocksee-Lehrplan

Die vier Fächerbereiche

Den vier Fächerbereichen, wie sie nachfolgend beschrieben werden, liegt eine Realität zugrunde. Die Fächerbereiche sind als differente Realitätsdimensionen zu be- trachten, denen unterschiedliche Erkenntnisinteressen und Zugangsmethoden zu- kommen. Von daher hat auch die didaktische Reflexion jeder dieser Dimensionen ihre eigene Logik.

Die vorgeschlagenen Themenkataloge, die den Ausführungen zu den Fächerbereichen beigeordnet sind, zeigen mögliche Inhalte, die unter der spezifischen Dimension des betreffenden Fächerbereichs sinnvoll untersucht werden können (und möglicherweise ebenso unter einer anderen Dimension untersucht werden können), auf. Im so zu verstehenden Rahmen dieser Fächerbereiche werden Angebotsthemen von Lehrern/Lehrerinnen der jeweiligen Lerngruppe inhaltlich erarbeitet und didaktisch geplant.

  • Die hieraus resultierenden Angebotsentwürfe entwickeln keine Verhaltensziele für die Schüler/innen, sondern Verfahrensvorschläge für die Lehrer.

  • Didaktischer Ausgangspunkt sind nicht die Lernendergebnisse, die die Schüler/innen haben sollen, sondern ist die Antizipation ihrer möglichen Interessen, Bedürfnisse, Phantasien und Fragestellungen, die die Schüler/innen bezüglich der Lerninhalte haben könnten.

  • Der Angebotsverlauf ist nicht linear gedacht, sondern eher als ein Zusammen- hang von inhaltlichen “Baukastenelementen“, die in anderer Reihenfolge und anderen Gewichtungen genutzt werden können.

  • Der Angebotsentwurf schließt das eigentliche Angebot nicht gegen Veränderungen ab, sondern ist prinzipiell offen – offen nicht im Sinne einer Beliebigkeit, son- dern im Sinne einer Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Lernsituationen bzw. an Entwicklungen der Schüler- oder Lehrerbedürfnisse.


Fächerbereich Gesellschaft

Die Lernprozesse im Zusammenhang dieses Bereiches haben eine doppelte Dimension:

Verein Libelle – natürliches Lernen voneinander Organisationsstatut Vogelsangschule

Zuerst einmal geht es um die Erkenntnis „über Welt“ (analytische Dimension) und gleichzeitig um die Reflexion einer „guten Welt“ (kritisch-normative Dimension). Die Lernprozesse zielen also gleichermaßen auf ein Erkenntnisobjekt und auf das Verhältnis zu diesem Objekt selbst. Die Behandlung der Inhalte bezieht das Verhältnis zu diesem immer schon mit ein:

Als Vorerfahrung der Schüler/innen, als durchgängiges Element der Lernprozesse und als Zielvorstellung gesellschaftlich-politischer Bildung.
Bedürfnisse und Interessen der Schüler/innen, die an Inhalte gekoppelt sind, die Form der Lernprozesse und die Zielvorstellungen für diesen Fächerbereich dürfen nicht auseinandergerissen werden. Die Entfaltung dieser Bedürfnisse und Interessen stellt selbst das Resultat der Lernprozesse dar, so wie dieses Resultat wieder die Bedürfnisse und Interessen mitverändert.

Unsere allgemeine Zielsetzung für diesen Fächerbereich ist die Entwicklung soziologischer Phantasie:

  • Soziologische Phantasie meint die Fähigkeit, eigene Erfahrungen in das Lernen an gesellschaftlichen Problemen miteinzubeziehen und hier fruchtbar zu machen.

  • Soziologische Phantasie meint die Fähigkeit, scheinbar isolierte Phänomene in ihrem sozialen Entstehungs- und Bedingungszusammenhang zu erfassen.

  • Soziologische Phantasie meint eine Form des Begreifens von gesellschaftlichen

Soziologische Phantasie fungiert aber nicht nur als Zielvorstellung, sondern ist ebenso Bestandteil der Form der Lernprozesse wie der Auswahl und Strukturierung der Inhalte. In dem Maße, wie die Lernprozesse durch soziologische Phantasie weitergetrieben werden, verwirklicht sich auch die Zielvorstellung.

Das Lernpotential der Kinder


Die Entwicklung soziologischer Phantasie ist ein Prozess, der an die Verarbeitungs- formen der Realität durch die Kinder anknüpft.

  • Dem Einbeziehen eigener Erfahrungen kommt der Egozentrismus kindlicher
    Wahrnehmung entgegen.
  • Die Fähigkeit, Phänomene in ihrem Zusammenhang zu sehen, ist noch nicht durch schulische Sozialisationseffekte starrer wissenschaftsorientierter Fächertrennung verbildet worden.
  • In gesellschaftlichen Phänomenen ihre Entwicklungspotentiale zu suchen wird gestützt durch eine Assoziationsfähigkeit, die bei Kindern noch unbefangener existiert als bei Erwachsenen. Das heißt, der Mangel an analytischen Fähigkeiten wird hier zunächst einmal als positives Potential begriffen. Egozentrismus der Wahrnehmung, ganzheitliche Herangehensweise an Realität und Assoziationsfähigkeit müssen zwar ihrer naiven Form entkleidet werden, bilden aber eine strukturelle Grundlage für die Entwicklung soziologischer Phantasie, die bewahrt werden sollte.


Unmittelbarer Erfahrungsbezug

Ein Großteil der Inhalte dieses Fächerbereichs soll dem Erfahrungshorizont der Kin- der entnommen sein (Fragen der Familie, des Wohnens, der Freizeit, der Schule, usw.).

Selbstverständlich kann es nicht ausreichen, wenn die Inhalte dieser Themen als abgrenzbare untere gesellschaftliche Bereiche betrachtet werden. Vielmehr ist darauf zu achten, dass Einzelphänomene erst dann verständlich werden können, wenn sie in ihrem gesamtgesellschaftlichen und historischen Zusammenhang betrachtet wer- den.


Mittelbarer Erfahrungsbezug

Darüber hinaus geht es in diesem Fächerbereich aber auch um Inhalte, die einen anderen, indirekten Erfahrungsbezug aufweisen. Hier sind die Inhalte den Kindern zunächst einmal fremd, es lassen sich jedoch Strukturen herausarbeiten, die für die Kinder in ihren Erfahrungshorizont übersetzbar sind.

Die Arbeit an Inhalten, die zwar fremd sind, in denen sich die Kinder gleichzeitig mit ihren Problemen wiedererkennen und die als Folie dienen können, über sich selbst zu reflektieren, ist häufig sogar motivierender als ein direkter Erfahrungsbezug. Die Abweichung vom Bekannten, die dennoch Elemente des Bekannten mittransportiert, kann Staunen, Phantasie und Motivation zum Nachdenken über das eigene Selbst- verständliche aktualisieren. Es gilt, in den Angeboten dieses Fächerbereiches Überraschungen, Zweifel, Ungewissheiten und Widersprüche zu ermöglichen.

Zum Gesellschaftsbild der Kinder

Inhalte in einen unmittelbaren oder mittelbaren Erfahrungsbezug zu stellen, bedeutet für die Kinder, sie auf der Folie des eigenen Gesellschaftsbildes zu verarbeiten. Was ist in diesem Kontext „Gesellschaft“ für die Kinder?

„Gesellschaft“ ist zunächst ein Abstraktum, das durch die Erklärung „Gesellschaft: Das sind wir alle“, keineswegs plausibel und fassbarer wird. Es ist etwas, was nur als entfernt, als „über mir“ aufgefasst werden kann, nicht aber als „in mir“.

Gesellschaft ist nicht das, was die Kinder kennen, sondern etwas, dem von seiten der Erwachsenen ein Erklärungswert zugesprochen wird, der erst einmal als von „außen“ kommend aufgenommen wird: lebenszeitlich („Gesellschaft“ sind die Erwachsenen) und räumlich („Gesellschaft“ ist das Überregionale). Um dieses „Außen“, das Gesellschaft zum Abstraktum macht, eher begreifbar zu machen, greifen die Kinder zu Erklärungsstrukturen, die sie sich über eigene Erfahrungen, vor allem aber auch über Medien angeeignet haben. Trivialserien im Fernsehen, die Tagesschau, Werbung, Comics, Kinderbücher, Zeitungsüberschriften, aufgenommene Fetzen aus Erwachsenengesprächen u.a.m. bilden hier ein diffuses und gleichwohl gewisse Regelmäßigkeiten aufweisendes Reservoir für das entstehende Gesellschaftsbild. Einige dieser Regelmäßigkeiten seien hier genannt:

  • „Gesellschaft“ hat, in paradoxem Widerspruch zu ihrer hochindustriellen Struktur, ihren produzierenden Charakter weitgehend verloren. Die Dinge des alltäglichen Lebens sind einfach vorhanden. Sie zeigen nicht mehr ihren Entstehungsprozess und damit die Arbeit ihrer Produzenten.
  • Gesellschaft wird als Ausdruck von Einzelpersönlichkeiten verstanden. Nach dem Muster historisierender TV-Filme sind persönliche Motive wie Ehrgeiz, Neid usw. das treibende Moment des gesellschaftlichen Prozesses.
  • „Gesellschaft“ wird, in paradoxem Widerspruch zu ihrer zunehmenden Unüberschaubarkeit, als Auseinandersetzung zwischen Trägern eindeutiger moralischer Positionen verstanden. In Analogie zu den Handlungsmustern der Comics kämpfen Gute und Böse gegeneinander.
  • „Gesellschaft“ hat, in paradoxem Widerspruch zur sozioökonomischen Begrenzung ihrer Produktivität, grenzenlose technologische Entwicklungsmöglichkeiten. Alles ist machbar – aber nicht als Arbeitsprodukt, sondern als „Erfindung“, als technisches Wunder. Die Menschen bekommen diesen technologischen Fort- schritt fertig vorgesetzt.

Die soziologische Phantasie weiterzuentwickeln, heißt, an den eben skizzierten Bewusstseinsformen anzusetzen. Diese Bewusstseinsformen der Kinder, wenn sie sich äußern, zurückzuweisen, hieße, ihre psychodynamische und kognitive Stabilisierungsfunktion zu verkennen:

  • Psychodynamisch:
    Sie geben eine affektive Stabilität, weil sie als eine Kontinuität des eigenen Selbstverständnisses eine Angstverarbeitung ermöglichen.
  • Kognitiv:
    Sie geben eine Stabilität der Weltorientierung, weil sie einer unüberblickbaren Vielfalt der Realität Sinn und Zusammenhang unterlegen.

Die Negation und Zurückweisung dieser Bewusstseinsformen bewirkt keine Lernprozesse, sondern verstellt sie geradezu:
Der Einzelne hält an seinen Bewusstseinsformen fest, spaltet sie allerdings von der offiziellen Kommunikation der schulischen Lernprozesse ab, sodass sie nicht länger verarbeitbar sind. Das psychodynamisch und kognitiv verankerte Lerninteresse, das immer hinter diesen Bewusstseinsformen als Potential besteht, kann nun nicht mehr für weitertreibende Lernprozesse genutzt werden. Es wird privatisiert und damit nur noch als Blockierung der Lernfähigkeit wirken.

Die soeben aufgezeichneten Elemente eines Gesellschaftsbildes der Kinder äußern sich vor allem in sozialen Verhaltensformen: also in typisiert verfestigten Sprachformeln, in denen sich eine spezifische Auseinandersetzung mit Realität nieder- schlägt. Die Reflexion der sozialen Bedeutung von Lerninhalten bekommt hier ihren ganz besonderen Stellenwert. Subjektive Bedeutung ist nämlich nicht nur erschließ- bar über das, was positiv ausgedrückt wird (wofür sich die Kinder interessieren, wel- che Einstellungen sie äußern), sondern auch über das, was von ihnen negiert, weg- gelassen oder verzerrt wird (wofür die Kinder ein Interesse abstreiten, welche Fragen sie nicht stellen, usw.).

Beides muss berücksichtigt werden: Die Stellungnahme zur Realität wie auch die Abwehr ihrer bedrohlichen Aspekte ist Aneignung von erfahrener Realität und gleich- zeitig partielle Verleugnung.

Fächerbereich Sprache

Gegenstand dieses Fächerbereiches ist Sprache und Sprachliches im weitesten
Sinne.

Kind und Sprache

Die Bindung an Sprache gehört zu den Grundvoraussetzungen menschlichen Daseins. Beim Sprachunterricht kann es daher nur darum gehen, einen in frühester Kindheit eingesetzten Prozess fortzusetzen und systematisch zu fördern. Wir können davon ausgehen, dass das Interesse am Gegenstand Sprache bereits entwickelt ist und daher nur in entsprechender Weise weiterentwickelt werden muss.
Sprache ist für die Kinder in doppelter Weise bedeutend:

  • Als Medium, mit dessen Hilfe die Erfahrungen bestimmt werden können.

  • Als Medium zur zwischenmenschlichen Kommunikation (als Grundlage menschlicher Gesellschaft).


Ausgangbedingungen eines Sprachunterrichts

Sprache ist ein Zusammenhang von Produktion und Organisation von Erfahrung, der zugleich Ergebnis und Bedingung gesellschaftlichen Verkehrs ist. Das allgemeine Sprachvermögen ist für Kinder subjektive Bedingung der Möglichkeit, Erfahrungen bestimmen zu können. Die während des gesamten Sozialisationsprozesses statt- findende sprachliche Kommunikation der Kinder mit Erwachsenen bestimmt sowohl Form als auch Inhalt kindlicher Bewusstseinstätigkeit. Indem Erwachsene Dinge und Erscheinungen benennen und somit deren Bedingungen und Verknüpfungen definieren, schaffen sie in Kindern Formen der Wahrnehmung, in denen sich kollektive Erfahrungen niederschlagen und die individuelle Bewusstseinstätigkeit überlagern. Erfahrungen des Kindes sind also in dem Maß nicht autonom produzierte, wie sein Bewusstsein – als Moment der praktischen Bewältigung der Umwelt – Produkt des gesellschaftlichen Verkehrs ist.

Bedürfnis- und interessenzentrierter Sprachunterricht muss die spezifischen Interessen der Kinder an sprachlichen und kommunikativen Gegenständen der Kulturindustrie (Comics, Werbeanzeigen, Fernsehsendungen, Filme, usw.) in seine didaktischen Überlegungen miteinbeziehen. Diese Gegenstände sind Bestandteil der Erfahrungen der Kinder und bestimmen wesentlich ihre Verarbeitungsformen. An diesen typisierbaren Interessen muss der Sprachunterricht anknüpfen. Nur wenn er die zu Stereotypen geronnenen Verarbeitungsformen von Erfahrung aufnimmt, ist ein Zugang zu den der Verdrängung anheimgefallenen Affekten möglich.

Unser Modell des Sprachunterrichts, das sich als Element eines politischen Bildungsprozesses versteht, ist nicht vereinbar mit den Forderungen eines rein fachbezogenen Unterrichts. Nur aus analytischen Gründen lassen sich die spezifischen Aufgabenstellungen des Fächerbereichs Sprache bestimmen.


Verfügen über Sprache

Die Vermittlung von Sprache an das Kind ist der grundlegende Prozess für jede Sprachbildung. Indem das Kind über Sprache zu verfügen lernt, gewinnt es Zugänge zur Wirklichkeit, die die Sprache ihm eröffnet und bestimmt. Die Scheidung von Selbst und Welt, die sich in der Sprache vollzieht, ist die Bedingung der Möglichkeit von Distanz und Vermittlung zwischen beiden. Sie ist damit zugleich Grundlage für jede mögliche Form des Selbstverständnisses zur Welt, das individuelle wie soziale Eigenständigkeit und Selbstverantwortung hervorbringt.


Durchschauen sprachlicher Manipulation

Die ständig steigenden sprachlichen Einflussmöglichkeiten über die verschiedenen Medien (Funk, Fernsehen, Presse) bedeuten eine ständige Gefahr, die Kinder mit Hilfe von sprachlichen Manipulationen von außen her zu steuern und auf Verhaltensweisen (Konsumverhalten, Vorurteilsbildung, politische Entscheidungen...) festzulegen, die nicht den eigenen Bedürfnissen entstammen. Um sich den sprachlichen Manipulationen zumindest teilweise entziehen zu können, ist es notwendig, deren Ursache, Motive, Verfahren und Wirkungen gemeinsam mit den Kindern aufzudecken.

Reflexion

Die Praxis der Kinder und die in ihr enthaltenen sprachlichen Voraussetzungen ist geprägt durch die Übermacht des objektiven Lebenszusammenhanges, in dem sie sich befinden und der ihre Erfahrungen bestimmt. Daraus ergibt sich für uns die Forderung, das für Sprache konstitutive Moment möglicher Emanzipation – das der Reflexion – verfügbar zu machen. Zu diesem Zweck muss die Sprache als Medium der Selbstaufklärung der Kinder über ihre Praxis verfügbar gemacht werden. Dazu müssen Lernsituationen geschaffen werden, die eine symbolische Repräsentanz des sozialen Kontextes der Kinder, unter Anknüpfung an ihre empirischen Bedürfnisse herzustellen erlauben. Durch die Gegenüberstellung von Wort und Ding sollen bisher unbewusste Abhängigkeiten aufgezeigt werden.


Bewältigung und Veränderung der Lebenswirklichkeit

Eine weitere grundlegende Forderung dieses Fächerbereiches ist die Einführung der Sprache als Medium, in dem die auf Veränderung gerichteten Phantasien artikulierbar werden können, mit dem Ziel, die Praxis selbst zu verändern.


Förderung sprachlicher Kreativität

Kreativer Sprachgebrauch ist auf allen Ebenen der Sprache möglich: Von der Formulierung bisher nicht ausgesprochener oder geschriebener Sätze, Texte, über neue Metaphern und Wortkombinationen, bis zu eigenständigen Wortbildungen.

Fächerbereich Ästhetik

Zur subjektiven Bedeutung dieses Fächerbereiches für die Kinder
Aufgrund der gesellschaftlichen Erfahrungen (z.B. über Kunst), der eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse der Kinder lässt sich hierzu einiges vermuten, was aber durch genauere Untersuchungen zu überprüfen wäre:

  • Welche Phantasien, Stereotype, Klischees usw. zeigen die Kinder im Bereich ästhetischer Produktion und Rezeption?

  • Welche Bedürfnisse und Einstellungen drücken sich darin aus?

  • Welche Erfahrungen liegen zugrunde?

Die subjektive Erfahrung dieses Bereiches ist komplex und widersprüchlich. Allgemein lässt sich sagen:

  • Die Kinder wollen sich künstlerisch (produktiv und rezeptiv) mit der Realität auseinandersetzen, sich diese Realität aneignen, indem sie sie gestalten, sich komplex und unter Beteiligung aller Sinne mit ihr auseinandersetzen, sie anschaulich darstellen, „richtig“ abbilden, d.h. so, wie sie ihrer Meinung und Erfahrung nach ist. Sie haben aber oft eine Tendenz, Realität so zu veranschaulichen, wie sie nach bestimmten Erwachsenennormen dargestellt werden muss (z. B. beim Malen und Zeichnen). Sie suchen andererseits in der Kunst auch das Künstliche, das vom Alltag Abgesonderte: eine heile Welt aus Illusionen. Sie suchen Ablenkung, Entspannung, Unterhaltung. D.h. die Kinder reproduzieren in ihren Bedürfnissen die gesellschaftliche Trennung Arbeit-Freizeit; Denken-Handeln-Sinnlichkeit-Emotionalität (z.B. passiver Konsum von Musik und Fernsehen).

  • Die Kinder wollen selbst etwas Sinntragendes herstellen, produzieren, gestalten. Oft ist es nur ein inhaltsleeres Interesse an technisch-handwerklicher Betätigung oder es äußert sich inhaltlich in dem Wunsch, bestimmte Konsumartikel herzu- stellen. Sie wollen aber auch Affekte und Spannungen im Umgang mit dem Mate- rial abarbeiten.

  • Sie wollen sich ausdrücken, (Bewunderung, Freude, Mitleid), sich mit anderen identifizieren, sich mitteilen, kommunizieren in einer die diskursive Sprache über- schreitenden Form. Sie wollen aber auch narzisstische Bedürfnisse befriedigen, sich selbst zurückziehen, sich mit einem individuellen Produkt identifizieren können. Sie wollen in phantasievollem, spielerisch-experimentellen Umgang mit Material/Gegenständen/Menschen neue Erfahrungen machen, die bestehende, einschränkende Alltagsrealität überschreiten, bestimmte Momente idealisieren. Sie suchen Schönheit, Harmonie, Ausgeglichenheit und Ordnung in den künstlerischen Produktionen. Und doch sind diese für die Kinder auch verbunden mit „nichts tun“, Konsum, zielloser Phantasie und Spinnerei, deutlicher Abkehr vom eigenen Lebenszusammenhang.

Objektive Realitätsbereiche einer ästhetischen Erziehung

,,Progressiver“ Kunstunterricht bezieht sich heute nicht mehr nur auf bestimmte Bereiche gesellschaftlicher Kultur, die sich historisch „arbeitsteilig“ entwickelt haben, wie bildende Kunst, Musik, Theater. „Ästhetische Erziehung wird hier ausgeweitet auf die gesamte visuell vermittelte Kultur der Gesellschaft“. (H. Schilinzky) und weiter auf alle sinnlich erfahrbaren und verarbeitbaren Prozesse des Alltagslebens. Bei der Auswahl von Themen und Inhalten für ästhetische Erziehung wird auf die Realitätsbereiche oder Bezugsfelder Bedacht genommen, die historisch-arbeitsteilig als mehr oder weniger organisierte Formen ästhetischer Wahrnehmung und Verarbeitung von Realität (unter unterschiedlicher Beteiligung und Einbeziehung einzelner Sinne und Aktivitätsformen) entstanden sind. Sie haben subjektiv für die Kinder auch eine unterschiedliche Bedeutung und enthalten verschiedene objektive Probleme.

Ästhetische Erziehung als Emanzipation der Sinne

Ästhetische Produktion und Rezeption im Rahmen einer ästhetischen Erziehung ist eine spezifische Aneignungsform der Realität (Verarbeitung, Umarbeitung) und zugleich eine spezifische Form der Vergegenständlichung des Menschen.
„Ästhetik“ meint ursprünglich: „sinnliche Wahrnehmung“, „Empfindung“. Die sinnliche Wahrnehmung der Kinder ist bestimmt durch die Produkte der Kulturindustrie, der Massenmedien und Warenästhetik. Sie sprechen massiv vorrangig Gesichts- und Gehörsinn an und entwickeln so deren Dominanz gegenüber Geruchs-, Geschmacks- und haptischen Sinn. Die letzteren bleiben weitgehend isoliert und unterentwickelt und können so ihre Kontrollfunktion kaum erfüllen. Über Gesichts- und Gehörsinn schaffen die Massenmedien eine Scheinwelt, eine Fiktion, die als Wirklichkeit verkauft wird und präformieren so die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ästhetische Erziehung hat die Aufgabe, die Ausbildung aller Sinne voranzutreiben. Erst im Zusammenwirken aller Sinne kann die sinnlich-konkrete Ganzheit der Realität erfasst werden und so eine wechselseitige Kontrolle der Sinne erfolgen. Ästhetische Produktion und Rezeption bedeutet hier veränderndes Eingreifen in den Alltag, praktisch-kritische, spielerisch-experimentierende Tätigkeit (ist also nicht nur Erkenntnis sondern auch Handeln). Indem die Kinder die Umstände verändern, verändern sie sich auch selbst, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, ihre Gefühle, ihre Seh-, Denk- und Auffassungsweisen unserer Alltäglichkeit.

Zielbestimmungen

  • Erfahrung der Materialität bzw. Körperlichkeit und Erfahrung der Gestaltbarkeit und Veränderbarkeit der Realität.
  • Erkennen und Erfassen des Typischen und Individuellen, des Allgemeinen im Einzelnen, des Gesetzmäßigen im Zufälligen.
  • Erkennen und Erfassen des, in der Realität angelegten, Möglichen.

Objektive Bedeutung einer ästhetischen Erziehung

Vor dem Hintergrund objektiver Erziehungs- und Lernziele unserer Schule lassen sich aus den hier in allgemeiner Form wiedergegebenen subjektiven Bedürfnisse der Kinder die darin enthaltenen objektiven Interessen entwickeln, die zu folgenden Lehrzielen der ästhetischen Erziehung weiter differenziert werden können.

  • Selbstwahrnehmung, -darstellung, -analyse. D.h. Wahrnehmung und Darstellung
    eigener Ergebnisse, Erfahrungen, Konflikte und Wünsche durch und mit
    ästhetischen Mitteln.
  • Wirklichkeitsdarstellung, -wahrnehmung und -analyse (Wirklichkeitsaneignung).
    D.h. Verarbeitung des eigenen Lebenszusammenhangs mit ästhetischen Mitteln.
  • Aktive Gestaltung und Veränderung der Umwelt des Alltags mit ästhetischen Mitteln. D.h. Produktion bzw. Gestaltung von Gebrauchsgegenständen, Räumen usw., Veränderung von Verhalten, Beziehung.

Die weiteren Funktionen sind im Grunde in diesen ersten drei Punkten enthalten:

  • Kreative ästhetische Darstellung und Erfahrung von Veränderungsmöglichkeiten.
    Z.B. im ästhetischen Produkt oder Produzieren die bestehende Realität über- schreiten, konkrete Utopien erfahrbar machen, alternative Lebenszusammenhänge, Ideale und Ziele.
  • Herstellen eines Kommunikationszusammenhanges mit ästhetischen Mitteln (pragmatische Funktion).
    Sachverhalte für andere wahrnehmbar machen, „Kunst“ als Medium der Kommunikation und Beeinflussung einsetzen; ästhetischen Darstellungen Informationen entnehmen.
  • Ausbildung von Wahrnehmungskritik (kritische Funktion), d.h. Analyse und Interpretation ästhetischer Objekte und Prozesse (Hinterfragen der Absicht, Durch- schauen der Struktur, ästhetische Ideologiekritik).
  • Ausbildung des Wahrnehmungsgenusses (hedonistische Funktion), d.h. sinnlich-ästhetische Freude empfinden.
  • Ausbildung motorisch-affektiver Ausdrucksmöglichkeiten.

Fächerbereich Natur

In diesem Fächerbereich wird der materielle Aspekt der Realität erfahren (empirische Dimension), untersucht (analytische Dimension) und bearbeitet (praktische Dimension). Es geht hier primär um Instrumentalisierung der materiellen Realität. Unter materieller Realität ist hier das Ensemble der lebendigen und toten Natur, sowie deren vielfältigen Beziehungen untereinander gemeint.

Die grundlegende Beziehung des materiellen Wesens Mensch zum materiellen Komplex, von dem er ein Teil ist, muss als „Bedürfnis“ gesehen werden. Es ist als eine einseitig immanente Verbindung mit der umgebenden Materialität zu begreifen. Im Rahmen eines bedürfnisbezogenen Unterrichts müssen die Kinder zu Subjekten ihrer Lernprozesse werden bzw. bleiben. Von daher ist verständlich, dass sich das Lernen nicht an isolierten, fachspezifischen Bereichen orientieren kann, sondern von der Art und Weise, wie sich die Kinder die Realität aneignen, bestimmt wird.

Die Beziehung von Materie und Mensch (Kind) ist eine dialektische. Indem der Mensch auf unsere Materie einwirkt, damit sie für ihn verfügbar wird, verändert er sie so, dass die (bearbeitete) Materie bei ihm veränderte Erfordernisse bewirkt. Lernen in diesem Fächerbereich ist daher zunächst Instrumentalisierung der materiellen Realität. Die Materie ist nicht bloß tote Materie. Der Gegenstand stellt sich dem Menschen gegenüber und zwingt sich ihm auf: Die Art der bereits erfolgten Organisation des Gegenstandes bestimmt, inwieweit und wodurch der Mensch ihn instrumentalisieren kann.

Aus dieser dialektischen Beziehung Materie – Mensch lassen sich zwei Arbeits- weisen ableiten.

Das Bastlertum

Die Kinder versuchen, die in den (zufällig vorhandenen) Gegenständen liegenden Möglichkeiten zu entdecken und anzuwenden. Das Ergebnis ist weitgehend zufällig. Es spiegelt die Verbindung der Möglichkeiten des Kindes mit den in den jeweiligen Gegenständen liegenden Möglichkeiten wieder. Das Material lehrt die Kinder in dem Maße, in dem sich den Kindern durch die Bearbeitung des Materials zusätzliche Möglichkeiten erschließen.

Die Materie ist durchtränkt von inerter Praxis, d.h. in ihr sind unterschiedlichste Möglichkeiten der Handhabung und Veränderbarkeit angelegt, die erst durch die Praxis aktualisiert werden.

Die Zwecke erschließen sich den Kindern spontan als Ziele, die erreicht oder erfüllt werden müssen, ohne dass irgendeine Rückwendung zu sich selbst diese Ziele auf subjektive Art bezieht. Die Bedürfnisse der Kinder werden aber nicht nur auf der Ebene praktischer Erfahrungen und Auseinandersetzungen sichtbar. Es schließen sich daran vielfältige weiterführende Interessen auf anderen (theoretischen) Ebenen an. Es geht darum, die konkreten Erfahrungen zu bestimmen und mittelbar zu machen. Von da her kann man die zweite Arbeitsweise, die sich aus der dialektischen Beziehung Mensch – Materie ergibt, ableiten:

Das Technikertum

Hier geht es darum, ausgehend vom Interesse des Kindes, ein in der Vorstellung vorweggenommenes Ergebnis zu erzielen. Das Kind ist sich der Möglichkeiten, die in ihm und in der materiellen Umwelt liegen, bewusst (zumindest nimmt es das an). Mit Hilfe eines Planes, in dem sich das Kind als Objekt setzt, versucht es, sein Ziel durch Neuorganisierung des materiellen Ensembles zu erreichen. Der eigenen Beurteilung des daraus entstehenden Resultats kommt doppelte Bedeutung zu:
Sowohl das Arbeitsergebnis als auch das Kind, insofern es sich in seiner Praxis objektiviert hat, wirken auf das Kind zurück. Von daher kann es Selbstbewusstsein ent- wickeln, das von eigenen gelungenen Aktionen getragen ist. Dass dies dazu ermutigt weiterhin kreativ und erfinderisch auf die Materie einzuwirken, und konstruktives Arbeiten zum Zweck eigenständiger Problemlösungen anzustreben, liegt auf der Hand. Mit fortschreitender Erfahrung werden immer komplexere Projekte möglich. Aufbauend auf derartige Erfolgserlebnisse werden die Kinder bereit, die Verantwortung für ihr Handeln zu tragen.

Sonderbereich Mathematik

Unter den vorgegangenen Voraussetzungen wird Mathematik als Sonderthema zu behandeln sein. Ausgeprägte Erfahrungen im Umgang mit Größen, in der Zuordnung zwischen Größenbereichen und mit Formen und Flächen stellen die Grundlage der Arbeit dar. Ein möglichst großer Teil des mathematischen Lernzielkomplexes soll durch Angebote abgedeckt werden. Darüber hinaus gibt es Begleitkurse mit Anleitungen, Aufgaben und Übungen.


Forderungen in der schulpraktischen Arbeit

Die Trennung von in der Praxis miteinander verschränkten Momenten kann nur aus analytischen Gründen erfolgen.

Sammeln von Elementarerfahrungen

Vorerst geht es darum, Situationen zuzulassen, die den Kindern, ihren Bedürfnissen und Interessen entsprechend, grundlegende Auseinandersetzungen mit der gegenständlichen Realität ermöglichen. Das kann in der freien Natur, in Räumen, in der Stadt, am Land, auf Spielplätzen. usw. geschehen. Für die Schulräumlichkeiten gilt, dass sie entsprechend dem Entwicklungsstand der Kinder möglichst viele Materialien, Gebrauchsgegenstände Spielsachen. Werkzeuge usw. enthalten, die für die Kinder nach Möglichkeit frei zugänglich sind. Unter diesen Voraussetzungen können wesentliche Eigenschaften und Fähigkeiten der Kinder für die Lernprozesse ent- wickelt und verfügbar gemacht werden: Sie zeigen Neugierdeverhalten, untersuchen die Gegenstände im Hinblick auf ihre Verwendbarkeit sie erforschen, entdecken, zerlegen, experimentieren und stellen so, in weitgehend spielerischer Art und Weise, Beziehungen zu ihrer gegenständlichen Umwelt her.

Von entscheidender Bedeutung ist es, dass diese Elementarerfahrungen im sozialen Kontext mit anderen Kindern gemacht werden. Die Aufgabe des Lehrers ist es, die Lerninteressen, die sich in solchen Situationen etwa durch Fragen äußern, auf- zunehmen und ohne Reduktion dieser Interessen Lernangebote zu organisieren.


Aufbau und Funktionieren der gegenständlichen Welt begreifen

Wenn man von Lernangeboten im Rahmen von Projekten ausgeht, bedeutet das, dass von „Problemen“ ausgegangen wird. D.h., dass es darum geht, eine Mangel- Bedürfnis Beziehung zu überwinden. In Bezug auf Natur bedeutet das, dass sie sowohl Gegenstand des Problems sein kann als auch ein Mittel ist, mit dessen Hilfe Probleme überwunden werden können. Von daher ist es notwendig, Aufbau und Funktionieren der gegenständlichen Welt zu begreifen. In diesem Zusammenhang ist die Mathematik als Methode ein Hilfsmittel, das die objektiven Gegenstände und Beziehungen untereinander teilweise erklärt, anzusehen. Sie hilft den Kindern aufgrund ihres spezifischen Erkenntnisinteresses, Strukturen und Prozesse zu be- schreiben und zu abstrahieren. Durch die mathematische Beschreibung und Abstraktion ist es den Kindern möglich, allgemeinere Zusammenhänge zu durchschauen, sie zu begreifen und das Wissen darüber gezielt anzuwenden.

Es geht also vorrangig nicht darum, die Strukturen der naturwissenschaftlichen Systeme, inklusive des mathematischen, mit Hilfe konkreter Beispiele zu erklären, sondern umgekehrt, die konkreten Probleme des jeweiligen Projekts und somit der Kinder mit Hilfe der Mathematik und den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.

Verwendung und Bearbeitung der gegenständlichen Welt

Hier geht es einmal darum, sinnlich erfahrbare Produkte herzustellen. Zum anderen ist hier die sinnvolle Anwendung von Produktionsmitteln wie Werkzeug, technischen Apparaten usw. wichtig. Wie schon an anderer Stelle erwähnt wurde, kann der Herstellungsprozess eines Produkts sowohl von den bereits vorhandenen Materialien ausgehen als auch von einem in der Vorstellung vorweggenommenen Ergebnis.

Während im ersten Fall Phantasie, Spiel, experimentelles Hantieren usw. im Vordergrund stehen, spielen im zweiten Fall eher konstruktive Momente eine wesentliche Rolle. In der Praxis freilich wird es zumeist zu einer Vermischung der beiden Vorgehensweisen kommen. Auch schulisches Lernen muss mehr als Nachmachen oder Einüben sein. Es geht darum, Produkte herzustellen, die die Kinder oder andere Menschen tatsächlich (ge)brauchen.

Bei der Herstellung dieser Produkte ist es von besonderer Wichtigkeit, die Kinder auf die Bedeutung der Naturkreisläufe aufmerksam zu machen. Die Natur kann nicht als eine unendliche „Vorratskammer“ gesehen werden. Sie ist vielmehr durch die in ihr liegenden Gesetzmäßigkeiten in ihren Abläufen und Funktionen geregelt. Eine Störung dieser Kreisläufe stellt eine Gefährdung der Natur und somit auch der menschlichen Existenz dar. Dadurch, dass gerade das Stadtkind von seinen natürlichen Grundlagen entfremdet lebt, ist es notwendig, im Unterricht Angebote zu erstellen, die geeignet sind, Problembewusstsein in Bezug auf die Gefährdung der Natur zu schaffen.